Das tapfere Schneiderlein
Familienkonzert 28.11.2021 Stadthalle Reutlingen
Konzertlesung
Der Prinzessin ist der gute Handwerker am liebsten
Im »Musikalisch-literarischen Salon Reutlingen« wird »Das tapfere Schneiderlein« dezent neu gedeutet
Von Gabriele Böhm
REUTLINGEN. Na gut, das Schneiderlein hat ein wenig aufgeschnitten. Die von ihm besiegten »Sieben« waren keine gefährlichen Kämpfer, sondern nur Stubenfliegen. Doch wie der Handwerker allein mit dem, was er tatsächlich kann und darstellt, das Herz der Prinzessin erobert, davon erzählte das Märchen, das die Edition See-Igel am Sonntag in der Reutlinger Stadthalle präsentierte.
Musiker und Schauspieler kommen zusammen, um in Musik und Sprache Geschichten für Familien, vor allem für Kinder zu erzählen, die dadurch gestärkt und ermutigt werden sollen. Rund 60 Gäste waren trotz strenger Corona-Auflagen zu »Das tapfere Schneiderlein« erschienen. »Bei der Planung hatten wir uns natürlich weitaus mehr Publikum erhofft. Heute kamen nur rund 25 Prozent eines normalen Besuchs«, sagte Benjamin Gröner. Der ausgebildete Theaterregisseur, der als Sachbearbeiter im Kulturamt als Veranstalter der Reihe »Musikalisch-literarischer Salon Reutlingen« tätig ist, betonte aber gleichzeitig, dass nicht nur die Quantität zähle. »Unsere Arbeit lohnt sich, wenn man in die Kindergesichter schaut.« Es sei einfach schön, dass es Menschen gebe, die sich selbst in Coronazeiten so für Kultur begeistert könnten.
In den zwei Jahren, die Gröner bisher beim Kulturamt arbeitet, sei bisher »nichts normal« gewesen. Man brauche einen langen Atem, um die Durststrecke zu überwinden, ganz besonders, wenn, wie Gröner vermutet, der nächste Lockdown vor der Tür steht.
Lebendig und fesselnd las Schauspieler Stephan Baumecker das Märchen, während die Musiker Uwe Stoffel, Stefanie Staroveski (Klarinette) und Musikprofessor Albrecht Holder am Fagott dazu anschauliche Mozart-Melodien spielten. Die Sätze des »Divertimento«, als Unterhaltungsmusik komponiert, passten mit ihrem fröhlichen Charakter zu den Abenteuern des Schneiders.
Die Geschichte der Brüder Grimm ist bekannt und wurde von Ute Kleeberg, der künstlerischen Leiterin des Musikalisch-literarischen Salons (zusammen mit ihrem Mann Uwe Stoffel), neu erzählt. Stubenfliegen stören den Schneider beim Genuss eines Marmeladenbrots. Er greift zum Geschirrtuch und erwischt die Übeltäter. Sieben auf einen Streich – davon muss jeder erfahren.
»Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich erfolgreich«, sagte Baumecker. Denn in der Regel mäkelten die Leute und suchten nach Fehlern in den Näharbeiten, um den Preis zu drücken. Musik und Lesung waren sehr präsent und dem Publikum zugewandt, das gespannt lauschte.
Polonaise zum Vogelflug
Den Schneider packt die Wanderlust. Gleich hinter dem Stadttor findet er einen geschwächten Vogel, den er eine Weile in seiner Tasche mitnimmt, musikalisch ausgedrückt durch den Larghetto-Satz des Stücks. Das Schneiderlein begegnet einem Riesen, furchtlos, denn auf seinem Gürtel steht seine Heldentat zu lesen.
Doch auch Raffinesse gehört dazu, um den Riesen zu beeindrucken. Im Wettkampf, wer einen Stein am weitesten werfen kann, wirft der Schneider den Vogel in die Luft, der schnell nicht mehr zu sehen ist. Die Polonaise begleitete den Vogelflug. Mit dem Adagio wanderten Riese und Schneiderlein zusammen weiter. »Das Glück ist auf meiner Seite«, ist der junge Mann überzeugt. Mit seinem neuen Selbstvertrauen besiegt er nicht nur die Riesen, dargestellt durch die tiefe »Monodie« von Charles Koechlin, sondern ist auch am Königshof erfolgreich.
Dort wartet eine weitere Prüfung auf ihn, die Jagd auf das Einhorn. Zauberhaft sieht er es auf einer Lichtung stehen, begleitet von »Les haies fleuries« von Charles Koechlin. Natürlich gewinnt der Schneider die Liebe der Prinzessin (»Romanze«, op. 8 von Ignaz Pleyel) und muss am Ende Farbe bekennen über seine wahre Identität. Doch, ganz wie im Märchen, ist sie keineswegs enttäuscht, sondern froh darüber, dass sie einen guten Handwerker und keinen Kriegsherrn heiratet. Vor Erleichterung erklingt das fröhliche Rondo aus dem Divertimento.
Gerne nahmen Kinder und Erwachsene nach dem Märchen das Angebot an, sich die Instrumente erklären zu lassen oder die Musiker zu fragen, was sie machen, wenn sie gerade nicht auf der Bühne stehen. (GEA)
Nach der Konzertlesung beantworteten die Musiker, wie hier Fagottist Albrecht Holder, die Fragen von Kindern und Erwachsenen. Foto: Böhm