Süddeutsche Zeitung „Klassik für Kinder“
Musikalische Märchen
Ihre Majestät der Kauz
„Des Kaisers neue Kleider“ – erzählt von Matthias Brandt
Ein Wunder, dass dieser Staat nicht längst bankrott ist.
Aber, bitte, es ist ein Märchen.
Wir befinden uns im Absolutismus. Das Staatsoberhaupt:
Ein Kaiser. Gaddafi könnte von ihm inspiriert gewesen sein,
auch er konnte seine Phantasiekostüme nicht oft genug wechseln.Der Kaiser von Hans Christian Andersen aber regiert in einer Zeit, in der Stoffe noch manuell auf Webstühlen hergestellt werden. All sein Vermögen und das seines Volkes investiert er allein in seine Garderobe. Die Untertanen sind ihm gleichgültig – und er ist es ihnen auch.
Es gibt wohl nur zwei Möglichkeiten einen solchen Monarchen darzustellen. Entweder als Scheusal oder als Kauz. Gewissenlos ist er so oder so. Matthias Brandt wählt die freundliche, groteske Lesart und macht ihn zum Freak.
Brandt verleiht dem Kaiser Sprache und Stimme eines in die Jahre gekommenen Sonderlings, degeneriert durch seinen ewigen Fummelspleen. Die Minister: Tattergreise,memmenhaft, armselig. Der einzige, der vernünftig klingt, ist natürlich der Narr – als Alter Ego Andersens, Brandts, jedes Zuhörers. Das spüren auch Kinder, wie sie am Ende die gesamte parabolische Handlung nachvollziehen können. „Des Kaisers neue Kleider“ bietet Ihnen eine neue Hörerfahrung, wenn sie zuvor durch Zwerge, Hexen und Prinzen, knutschende Frösche und musizierende Esel mit der Märchenwelt vertraut gemacht wurden. Andersens Geschichte erfordert eine andere Konzentration als Schneewittchen,
aber sechsjährige bringen sie auf. Und Matthias Brandts Interpretation erleichtert es ihnen: Seine Stimmgebung ist so theatralisch wie nötig und so charakteristisch wie möglich. Das reicht aus, um Bilder zu erzeugen.
Die Musik fügt sich fabelhaft mit der Erzählung zusammen. Wobei die Auswahl überrascht. Bei einem Kaiser könnte man bombastische Fanfaren erwarten. Stattdessen erklingt Salonmusik: Flöte statt Trompete, Geige statt Posaune, Cello statt Pauke. Die Geschichte der großen Lüge von den Kleidern, die keiner sieht, weil es sie nicht gibt, und doch jeder zu sehen vorgibt, liegt in den Werken von Oscar Fetrás, Ernest Gillet, Francesco Paolo Tosti und Salvatore Cardillo wie auf einem samtenen Bett. Diese Komponisten, Zeitgenossen Andersens, sind Entdeckungen.
Zum Umzug des Kaisers durch die Stadt – in Unterwäsche – ertönt allerdings eine Bearbeitung aus Richard Wagners „Tannhäuser“. Ein genialer Einfall. Auf Klavier klingt dieses Stück wie gemacht für den kläglichen Aufmarsch eines Kauzes.
Rudolf Neumaier (Süddeutsche Zeitung Mittwoch 10. Oktober